Interview mit Priv.-Doz. Dr. Matthias Künzer

5. Januar 2024

Porträts am Fachbereich Mathematik der Universität Stuttgart - Priv.-Doz. Dr. Matthias Künzer

Was sind Ihre Aufgaben am Fachbereich?

Ich bin beim Lehrexportzentrum Mathematik, kurz LExMath, welches die benötigte Mathematik für Ingenieurstudiengänge bereitstellt und verschiedene Dinge im Lehrexport koordiniert. Daneben helfe ich in der Lehramtsausbildung mit. Ab und zu finde ich auch Platz für eine Vorlesung aus dem Bereich Algebra.

Kann man bei Ihnen auch eine Bachelor- oder Masterarbeit schreiben?

Ja. Sofern man bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen.

Für mich gilt das auch: Bei den Arbeiten, an denen ich beteiligt war, konnte ich einiges lernen.

Ist Höhere Mathematik für Sie als Dozent interessant?

In der HM behandelt man Mathematik, die im Zeitraum von ca. 1750 bis 1900 entwickelt wurde, natürlich in einer für die heutigen Erfordernisse aufbereiteten Version.

In diesem Zeitraum wurden Werkzeuge entwickelt, an denen man sich jedesmal wieder erfreuen kann: die Determinante, die komplexen Zahlen, die Hessematrix, die Fourierreihen... Um heutzutage etwas Vergleichbares auf die Beine zu stellen, müssen sich die Mathematiker schon anstrengen.

Was sollen Mathematiker denn auf die Beine stellen?

Mathematik heißt, von einer konkreten Ebene in eine abstrakte Ebene zu wechseln, in dieser zu argumentieren und zu rechnen, um dann die Resultate wieder auf die konkrete Ebene anzuwenden. Zum Beispiel ermöglicht die Einführung von Koordinaten im abstrakten Modell  IR 2 die rechnerische Behandlung geometrischer Probleme.

Was man als konkret und was man als abstrakt ansieht, ist dabei Sache des Standpunkts. Das Vorgehen kann daher auch iteriert werden. Zum Beispiel ist IR 2 ein konkreter Vektorraum.

Was Mathematiker also erstellen, sind abstrakte Modelle, in denen man sich frei von konkretem Ballast bewegen kann und aus welchen man Ergebnisse auf die konkrete Ebene anwenden kann. Erstellen, ausbauen und anwenden.

Das ist ja recht allgemein. Und womit beschäftigen Sie sich selbst am liebsten?

Mit Dingen, bei denen man den Eindruck hat, diese warten darauf, behandelt zu werden. Wie zum Beispiel die n-Komplexe von Veronika Klein, die die herkömmlichen Komplexe der Homologischen Algebra, also den Fall n = 2, verallgemeinern.

Wenn man sich eine Weile in so einer Ebene bewegt, erscheint sie einem mit der Zeit zunehmend konkret. Das Vertrauen in Querverbindungen steigt, der Bedarf nach ständiger Absicherung durch Beispiele sinkt.

Wie kann man einen Praktiker von der Existenz unendlich kleiner Größen überzeugen?

Wenn man eine Momentaufnahme braucht, sollte man keine allzulange Belichtungszeit verwenden. Am besten wäre eine unendlich kurze Belichtungszeit, knapp länger als null.

Wenn man den Zustand eines elastischen Werkstücks an einer Stelle kennen will, genügt es nicht, einen bloßen Punkt zu betrachten, da dieser kein Angriffsfläche hat. Man kann aber stattdessen einen infinitesimalen Würfel ausschneiden und dessen Spannungszustand betrachten.

Später haben dann Cauchy, Bolzano und Weierstraß diese unendlich kleinen Größen zu endlichen, aber beliebig kleinen Größen umgedeutet, damit sie ins bereits vorhandene Gerüst der Mathematik passen. So haben sie für das intuitive Verständnis der Infinitesimalrechnung von Leibniz und Euler einen festen Unterbau geschaffen.

In der Praxis hilft Vertrautheit mit diesem Unterbau, in einer gegebenen Situation zu entscheiden, ob ein mathematisches Werkzeug anwendbar ist oder nicht. Die Bedienungsanleitung ist ja in dieser Sprache geschrieben.

Ist eigentlich π = 3,2 ?

Sie spielen auf den Cartoon an meiner Türe an, in dem ein Gesetzesvorhaben aus Indiana von 1897 veralbert wird. Tatsächlich ist die Zahl π eines der ältesten und zugleich rätselhaftesten Biester der Mathematik. Als ich kürzlich Gelegenheit hatte, mir den aktuellen Stand der Argumentation für die Transzendenz von π anzusehen, habe ich gestaunt.

Danke für das Gespräch.

Priv.-Doz. Dr. Matthias Künzer
Stellvertretender Leiter des Lehrexportzentrums Mathematik 

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